Abwehr- und Fluchtverhalten von Erdchamäleons

Madagassische Erdchamäleons der Gattungen Brookesia und Palleon sind ziemlich speziell – auch und insbesondere, was ihr Abwehrverhalten gegenüber Fressfeinden angeht. Wegen ihrer Größe und der im Gegensatz zu den Baum bewohnenden Chamäleons Madagaskars weniger ausgeprägten Farbvielfalt haben sie ganz besondere Verhaltensweisen entwickelt, um sich vor Beutegreifern zu schützen.

Weglaufen

Eine einfache Strategie, einer unangenehmen Situation auszuweichen: Davonlaufen. Einige Erdchamäleons probieren es erst einmal mit eiligem Davonlaufen, bevor sie an andere Abwehrmechanismen denken. Wirklich schnell „rennen“ können Erdchamäleons zwar nicht, sie können sich auf dem Boden aber doch erstaunlich schnell unter die dicke Laubschicht und damit zumindest außer Sichtweite bewegen.

Erstarren

Brookesia superciliaris aus Ranomafana

Brookesia superciliaris in Ranomafana, das bei der Sichtung des Fotografs direkt in der Bewegung innegehalten hat

Viele Erdchamäleons reagieren auf Berührung oder Ergreifen mit einem typischen Immobilisations-Verhalten. Sie bewegen sich nicht weiter, sondern erstarren regelrecht in Mitten ihrer Bewegung (in Englisch freeze = einfrieren). Nur an den Augen kann man dann noch erkennen, dass das Erdchamäleon gespannt seine Umgebung beobachtet. Viele Beutegreifer verlieren bei plötzlicher Bewegungslosigkeit das Interesse an ihrem Beutetier. Immobilisation macht also durchaus Sinn, um potenziell gefährlichen Situationen unverletzt zu entkommen. Passiert weiter nichts, läuft das Chamäleon nach wenigen Minuten weiter. Es bewegt sich dabei wie größere Chamäleons auch in einem vor- und zurückwackelndem Schritt, um ein im Wind wiegendes Blatt zu imitieren.

Fallen lassen und Wegrollen

Viele Erdchamäleons wie Brookesia antakarana, Brookesia minima, Brookesia peyrierasi oder Brookesia confidens haben ein sehr spezielles Verhaltensmuster bei Berührung: Sie ziehen Arme und Beine an den Körper und lassen sich mit einer rollenden Körperbewegung fallen. Dabei ist völlig egal, ob sie dabei von einem Baumstamm fallen oder von einem Ast. Durch ihr geringeres Körpergewicht und die aufblasbaren Luftsäcke passiert den Chamäleons dabei in der Regel nichts. Auf Englisch wird dieses Verhalten freeze and roll, zu Deutsch „einfrieren und wegrollen“, bezeichnet. Man vermutet, dass Erdchamäleons damit Blätter oder kleine Ästchen imitieren, die zufällig vom Beutegreifer berührt werden und dabei versehentlich herunterfallen. Meist läuft das Erdchamäleon am Boden nach wenigen Sekunden weiter. Wir haben dieses Verhalten auf Madagaskar schon sehr häufig beobachtet. Es tritt bei fast allen Brookesia-Arten auf, jedoch individuell sehr unterschiedlich stark ausgeprägt. Manche Erdchamäleons nutzen bereits bei kleinsten Störungen dieses Fluchtverhalten, bei anderen kann man es so gut wie nicht provozieren.

Vibration

Brookesia micra, Nosy Hara, 2019

Auch diese Winzlinge aus Nosy Hara können vibrieren

Wird ein Erdchamäleon von einem Beutegreifer ins Maul genommen oder vom Menschen mit den Fingern aufgehoben, haben offenbar kontaktlose Abwehrmechanismen wie das Erstarren oder Wegrollen nicht funktioniert. Erdchamäleons bedienen sich in diesem Moment häufig einer Vibration des gesamten Körpers. Hält man das Tier in der Hand, fühlt es sich ein wenig an wie ein vibrierendes Handy. Man schätzt die Frequenz der Vibration auf 10 bis 50 Hertz ein und vermutet, dass sie mittels der Muskeln zwischen den Rippen erzeugt wird. Wahrscheinlich soll mit diesem ungewöhnlichen Verhalten der Beutegreifer irritiert werden, so dass er das Chamäleon spontan loslässt. Das bietet dem Erdchamäleon die Gelegenheit zur Flucht. Die Größe der Art spielt für dieses Verhalten übrigens keine Rolle. Bei Brookesia micra, dem kleinsten Chamäleon der Welt, haben wir schon genauso Vibration erlebt wie beim größten Erdchamäleon Madagaskars, Brookesia superciliaris.

Den Körper abflachen

Eher ungewöhnlich, aber immer wieder mal zu beobachten ist das sogenannte Abflachen bei Erdchamäleons (in Englisch dorsal flattening). Im Gegensatz zu Baum bewohnenden Chamäleons, die ihren Körper bei Bedrohung nach oben und unten vergrößern und von vorne nur noch wie eine dünne Scheibe aussehen, verhalten sich Erdchamäleons genau umgekehrt. Sie drücken den Bauch enger an den Rücken heran und bewegen die Rippen weiter nach außen, um wie „plattgedrückt“ auszusehen. Wahrscheinlich versuchen sie damit, sich einem toten Blatt ähnlicher zu machen. Wir haben dieses Verhalten schon bei Brookesia stumpffi und Brookesia thieli beobachtet.

Sich schütteln

Fixiert man ein größeres Erdchamäleon zwischen den Fingern, so zeigen einige Individuen einen weiteren Abwehrmechanismus: Der ganze Körper bewegt sich wellenartig, wobei die dorsolateralen Tuberkelschuppen immer wieder nach außen gedrückt werden. Das Tier „schüttelt“ sich regelrecht hin und her. Es wird vermutet, dass dieses Verhalten den Beutegreifer wie Vögel dazu bringen soll, das Erdchamäleon vor Schreck loszulassen und ihm damit die Flucht zu ermöglichen. Auf Englisch nennt man dieses Verhalten spine thrusting, übersetzt etwa „Wirbelsäulenstöße“.

Totstellreflex

Alle Erdchamäleons auf Madagaskar nutzen als letzten Ausweg aus einer bedrohlichen Situation die sogenannte Akinese. Akinese kommt aus dem Altgriechischen von kínēsis, was mit dem a davor so viel wie „keine Bewegung“ bedeutet. Genau das passiert auch: Das Erdchamäleon zieht Arme und Beine eng an den Körper und lässt sich (ohne zu rollen) fallen, egal wo es gerade ist. Dabei schließt es die Augen und bewegt sich nicht mehr. Wenige Einzeltiere öffnen sogar das Maul und schieben das Zungenbein etwas vor, um einen möglichst echt aussehenden Tod vorzutäuschen.Im besten Fall hält der Beutegreifer das Chamäleon direkt für tot und lässt von ihm ab. Für etliche Beutegreifer ist Bewegung entscheidend – bewegt sich eine potenzielle Beute nicht mehr, wird sie sofort uninteressant. Wartet man ab und beobachtet das Erdchamäleon, bewegen sich nach wenigen Sekunden bereits die Augen wieder. Das Chamäleon schaut nach, ob „die Luft wieder rein ist“. Ist der Fressfeind bereits weg, steht es auf und läuft ganz normal weiter.

Erhöhte Schlafposition

Obwohl bis auf wenige Ausnahmen alle Erdchamäleons tagsüber vor allem auf dem Boden unterwegs sind, schlafen sie nachts nicht im Laub. Sie suchen sich Grashalme, dünne Äste oder Pflanzen als Schlafplatz. Bei Jungtieren liegt der Schlafplatz meist nur zehn Zentimeter über dem Boden, adulte Erdchamäleons schlafen schon mal auf ein bis anderthalb Meter Höhe. Diese erhöhte Schlafposition schützt die kleinen Chamäleons vor nächtlichen Fressfeinden am Boden, zum Beispiel stöbernden Schlangen oder Tenreks. Die folgenden Fotos zeigen Individuen von Palleon nasus und Brookesia antakarana exakt so, wie wir sie schlafend in der Nacht in den Regenwäldern von Ranomafana und dem Montagne d’Ambre gefunden haben.

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