Der Zungenschuss gehört zu den charakteristischen Eigenschaften aller Chamäleons. Dieser Artikel geht der Anatomie der Zunge auf den Grund, und erklärt, wie der Zungenschuss funktioniert. Wir möchten darauf hinweisen, dass es hier Bilder von präpararierten Zungenbeinen und eröffneten, toten Chamäleons zu sehen gibt.
Zungenbein
Das Zungenbein (Hyoid) ist sozusagen der Halteapparat der Zunge, und besteht aus Knochen und Knorpeln. Fast jedes Wirbeltier hat ein Zungenbein – auch der Mensch -, es ist nur immer anders geformt. Beim Chamäleon setzt sich das Zungenbein aus dem eher knorpeligen entoglossalen Fortsatz (der Teil, denn man beim Zungenschuss erahnen kann, in der Grafik 3) und den beiden knöchernen keratobranchialen Ästen zusammen (1). Alle drei treffen sich auf dem sogenannten Basihyoid, einer sehr kleinen Stelle am entoglossalen Fortsatz. Vor den keratobranchialen Ästen des Zungenbeins liegen noch kleinere, weiche Knorpel, die keratohyalen Fortsätze (2).
Aufbau der Zunge
Der gesamte Zungenapparat ist mit Muskeln und Bindegewebe zwischen dem Hinterkopf und dem Unterkiefer des Chamäleons aufgehängt.
Für die Funktion der Zunge ist unter anderem der Musculus hyoglossus (4) wichtig. Dieser Muskel setzt an den keratobranchialen Fortsätzen des Zungenbeins (1) an, und führt zum Musculus accelerator linguae (6). Dieser liegt rund um den langen entoglossalen Fortsatz (1) des Zungenbeins herum. Lange Zeit dachte man, der Zungenschuss würde mit reiner Muskelkraft ausgeführt. Heute weiß man, dass keiner der Zungenmuskeln die dafür benötigten Kräfte aufbringen kann. Es muss also noch einen anderen Mechanismus geben, der die Zunge zum Schießen befähigt. Und den gibt es! Um das Zungenbein herum liegen unter dem Musculus accelerator linguae mehr als zehn dünne Schichten aus Kollagenfasern (5). Sie sind fast für die ganze Kraft verantwortlich, die für den Zungenschuss aufgewendet werden muss. Außen ist diese Kollagenfaserschicht mit dem Musculus accelerator linguae verbunden, hinten dagegen mit dem Musculus hyoglossus.
Die Zungenspitze wird vom sogenannten Zungenpolster (7) und der darin befindlichen Zungentasche (8) gebildet. Eine grobe Übersicht über die Muskeln, die am Zungenapparat beim Chamäleon beteiligt sind, gibt diese Tabelle wieder.
Der Zungenschuss
Der Beutefang beim Chamäleon lässt sich in vier Phasen einteilen. Zuerst schätzt das Chamäleon die Entfernung zur Beute mit seinen Augen ein, und lagert dabei bereits die Zunge bereits ein Stück vor.
Beim Vorführen der Zunge im Maul vor dem Schuss dehnt der Musculus accelerator linguae die Kollagenfaserschicht aus und belastet sie damit mit potenzieller Energie. Diese Energie wird beim Schuss explosionsartig freigesetzt. Dies ist die zweite Phase des Beutefangs. Mit einer Beschleunigung von bis zu 486 m/sec² schießt der Musculus accelerator linguae samt Zungenpolster über das Zungenbein hinaus. Dabei wird der mitgezogene Musculus hyoglossus auf bis zu 600% seiner ursprünglichen Länge ausgedehnt. Das Ganze funktioniert, vereinfacht gesagt, wie eine Art Katapult mit Gummiband.
Die ausgefahrene Zunge ist bei Chamäleons etwa anderthalb Körperlängen lang, sehr kleine Arten schaffen es auf sogar zweineinhalbfache Körperlänge. Besonders beeindruckend ist das bei großen Arten wie den Parsons Chamäleons: Da kann die Zunge schonmal einen halben Meter weit schießen.
Die Zunge erwischt nun im besten Fall ein Futtertier, das ist die dritte Phase. Hier machen Chamäleons sich die sogenannte Zungentasche zunutze, die beim Schuss durch den Musculus genioglossus und die beiden Musculi longitudinales linguae geformt wird. Der sehr zähe Speichel hilft dabei, das Beutetier mittels Adhäsion fest an der Zunge halten. Der Rückstoß der „abgeschossenen“ Zunge hilft zusammen mit dem Musculus hyoglossus, den herausgeschossenen Musculus accelerator linguae und das Zungenpolster in der vierten Phase wieder in die Mundhöhle zu verlagern. Die Zunge ist dabei relativ schlaff, und man kann den entoglossalen Fortsatz des Zungenbeins in der Maulhöhle gut erkennen. Während des Zurückziehens der Zunge schließt das Chamäleon reflexartig seine Augen, um Verletzungen der empfindlichen Organe zu vermeiden.
Der gesamte Zungenschuss dauert je nach Art nur wenige Zehntel Millisekunden. Kleinere Chamäleon haben im Verhältnis zu ihrer Körpergröße einen größeren Zungenapparat und eine höhere Beschleunigung beim Zungenschuss haben als große Chamäleons. Es wird vermutet, dass damit eine höhere Reichweite beim Schießen erzielt werden kann, was einem kleineren Tier einen Vorteil bei der Futtersuche bietet. Sie müssen ja auch im Verhältnis zur Körpergröße mehr essen als große Chamäleons.